Saga von Ivar Snorrison und Neem Medeasdottír

Aus erkenfara.com
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der stolze Krieger und Herrscher seines Stammes, Snorri richtete seinen Blick gen Süden. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen über das Nachbarreich Vir'Vachal bis zu seiner Burg, der Vesten Broog, scheinen.
Mild war es hier auf dem Vorplatz zu seinen Privatzimmern und ein leichter Frühlingswind trug die Nachtluft mit sich fort.
Er dachte an Ivar, seinen Erstgeborenen, der das rabenschwarze Haar seiner wunderschönen Frau Medea geerbt hatte. Was sollte er dem lebenslustigen, klugen Vierjährigen nur sagen?
Wie sollte ein Vater es überhaupt schaffen, seinem Sohn den Tod der Mutter zu erklären?
Snorri hatte schon in vielen Schlachten tapfer gekämpft. Er war ein hervorragender Seemann, der jedem Sturm mutig die Stirn bot. Er war ein Mann der vordersten Front, doch heute hatte er ein leichtes Zittern im Schwertarm.
Der Heilkundige des Stammes trat aus dem Gebäude zu Snorri auf den Hof. "Geht zu ihr Herr, der Schleier zwischen den Welten ist dünn um Medea heute Morgen", sprach er leise.
Snorri straffte die Schultern und nickte knapp, ehe er den Blick zum Gehen abwandte.
Im Raum war es stickig und der Geruch nach Blut und Schweiß weckten die Erinnerungen eines Schlachtfeldes in Snorri. Sanft griff er nach der Hand seiner schweißgebadeten Frau. Sie war kreidebleich und atmete flach und schnell. Trotzdem öffnete sie die Augen und schaffte es, ihrem Mann ein Lächeln zu schenken. "Verbrenne die Blätter des Neemstrauches für unser Kind, Liebster. Wenn es zur Welt kommt, soll es nicht gleich das Elend um sich erfahren", bat sie ihn. Bitte stirb nicht, dachte Snorri. "Alles was Du willst", sagte er.
In einer letzten Kraftanstrengung, die Medea durch reine Willenskraft ihren Körper abverlangte presste sie ein kleines, blondes und blassblaues Mädchen auf die Welt. "Dich habe ich mir gewünscht", hauchte Medea als die Hebamme ihr das stille Baby auf die Brust legte. Niemand glaubte, dass das Kind die Strapazen der langen Geburt überlebt haben konnte und dennoch gewährten die Götter Mutter und Kind einen gemeinsamen Atemzug, bevor sie die Beiden wieder trennte.


Noch Jahre später musste Ivar seiner kleinen Schwester vom Tag ihrer Geburt erzählen. Geduldig beschrieb er seiner erwartungsvollen Zuhörerin jedes mal aufs neue, wie Medea ihren Atem an ihre Tochter verschenkt hatte. Er beschrieb ihr in allen Einzelheiten, wie ihr Vater sie, bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages, an sein Bett getragen hatte. Sie hatte nach Neemrauch gerochen und Neem war das erste Wort, dass er zu ihr sagte und der Grund dafür, dass Neem zu ihrem Namen wurde. Er hatte sie festgehalten und zerknautscht sei sie gewesen. Dann hatte Snorri seinem Sohn von den Schlachten erzählt, die jeder Mensch zu schlagen hatte. "Manchmal, wenn man etwas wirklich will, dann ist es egal wie hoch der Preis ist, man zahlt ihn. Wenn man für etwas mit dem eigenen Leben zu zahlen bereit ist und die Götter dieses Opfer ehrend entgegen nehmen, dann begrüßen sie einen direkt in Valhalla."
Snorri hatte Tränen in den Augen, aber seine Stimme war klar und fest, als er vom Tod der einzigen Frau sprach die er je wirklich geliebt hatte. Lange hielt er seinen Sohn und die kleine Tochter fest an sich gedrückt und trauerte mit ihnen um ihren großen Verlust. Als er ging, um das größte Trauerfest auszurichten, dass die Vesten Broog jemals gesehen hatte, ließ er das Baby bei dem Vierjährigen zurück.
Ivar nahm die Verantwortung ohne die geringste Klage hin.


Neem war vom Tag ihrer Geburt an ein seltsames Kind. Manchmal machte sie den Anschein als sei sie ein ganz normales Mädchen, nur um gleich darauf völlig durchzudrehen. Schon bald hatten andere Kinder Angst vor ihr, weil sie aus heiterem Himmel um sich schlug, fauchte oder biss. Nur Ivar hielt beständig zu ihr und versuchte den Schaden zu begrenzen, den seine verrückte Schwester anrichtete. Manchmal blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzubinden, damit sie sich und andere nicht wirklich in Gefahr brachte. Snorri und ein Teil der anderen Erwachsenen glaubten, dass Neem bei ihrer Geburt zu lange im Todesschleier gehangen hatte und ein Teil ihres Verstandes den Weg in diese Welt nicht zurückfand. Gerade so, als würde sie auf keiner der beiden Welten leben. Für Ivar war sie eben auf beiden Seiten zuhause.
Snorri war dankbar, dass sein Sohn sich seiner Tochter annahm, da ihm der Bezug zu dem Mädchen verwehrt blieb. Um so stolzer war er auf seinen Sohn, dem er alles beibrachte, was er als zukünftiges Sippenoberhaupt brauchen würde. Snorri lehrte seinen Sohn alles, was er über Schifffahrt und das Kämpfen wusste. Meist durfte Neem nur am Rand des Kampfplatzes sitzen und zuschauen, aber danach erklärte ihr Ivar dann die Sterne am Himmel, die man zum navigieren brauchte. Oder zeigte ihr, wie sie sich am effektivsten mit einem Dolch verteidigen konnte, sollte es nötig sein. Natürlich entging er gerade am Anfang nur knapp mehreren schlimmen Verletzungen, aber auch hier bewahrte er seine unendliche Geduld mit Neem.
Richtig wütend wurde er nur, wenn sie sich alleine davon stahl und dann für Stunden wie vom Erdboden verschluckt war. Dann konnte es passieren, dass sie im Winter in der eiskalten Gischt der See stand und danach wochenlang krank war.
Einmal schnitt sie sich aus einer ihrer seltsamen Launen heraus sämtliche Haare ab. Manchmal schluckte sie Beeren, von denen ihr Ivar gesagt hatte, dass sie giftig waren, nur um zu sehen, was dann passierte...
Als sie vierzehn Jahre alt war, verschwand sie erneut über zwei Tage lang.
Normalerweise verloren die beiden Männer ihrer Familie nicht oft die Beherrschung, aber nach diesem Ereignis tobten sie gleich doppelt. Erst, als Neem nach den zwei Tagen, in denen Ivar um ihr Leben gefürchtet hatte, freudestrahlend und hüpfend zurückkam, als sei sie nie fort gewesen und einige Wochen später, als eine Schwangerschaft sicher feststand.
Trotzdem nahm die Familie Neems kleine Tochter auf, genau so wie die zweite Tochter, die sieben Jahre später unter ähnlichen Umständen zur Welt kam. Beide Male erzählte Neem ihrem Bruder schon vor der Geburt, dass es ein Mädchen werden würde, sie wusste die Vorlieben und Schwächen ihrer Kinder unterhielt sich stundenlang mit ihrem Bauch über die Dinge, die vor ihnen lagen. Medea und Marta brauchten nach ihrer Geburt Ammen, da sich Neem nicht wirklich um sie kümmern konnte und Ivar beim besten Willen schon genug mit seinen Pflichten und Neem beschäftigt war.


Kurz nach Ivars neunundzwanzigstem Geburtstag tauchte ein fremdes nordisches Schiff vor der Küste der Vesten Broog auf. Hätten Snorris Leute zu jenem Zeitpunkt gewusst, was für schlechte Nachrichten die fremden Nordmannen ihrem Herrn überbringen würden, hätten sie diese nicht so herzlich empfangen.
Der Rat der Druiden, so richteten die Boten aus, habe entschieden, die Sippe "nach Hause" zu holen. Der Entschluss sei endgültig, das Gebiet zu räumen und an Vir'Vachal zurückzugeben. Snorri gefiel die Sache ganz und gar nicht, aber er war bereit zu tun, was die Druiden von ihm verlangten. Ivar konnte den Entschluss noch weniger akzeptieren und beharrte darauf, dass es keinen Grund gab, seine Heimat aufzugeben. Er war hier geboren und aufgewachsen. Hier hatte er sein ganzes bisheriges Leben verbracht, hier konnten sie sich gut versorgen, hier war das Grab seiner Mutter. Wo sollten sie denn hin, wenn sie Nordheim erreichen würden?
Dort wären sie nichts als ein Stamm entwurzelter Fremder und angewiesen auf die Gnade der Druiden und anderen Stämme.
Doch der Vater beharrte auf seiner Entscheidung und entschied, dass des lieben Friedens willen zu akzeptieren sei, was die Druiden für ihr Volk entschieden hatten.
So begann der Stamm die Vesten Broog Stein für Stein abzutragen und auf großen Schiffen zu verstauen. Ivar und sein Vater wollten die Sippe während der Überfahrt zusammenhalten und es dauerte über ein Jahr bis die Vorbereitungen abgeschlossen waren und alles, was zum Volk gehörte, einen Platz auf den Schiffen gefunden hatte.


Morgens, am großen Tag der Abreise, setzte Ivar seine Schwester und ihre beiden Kinder in eines der Ruderboote, um sie zu ihrem Schiff bringen zu lassen. Obwohl noch einiges an Arbeit vor ihm lag, nahm er sich die Zeit, den Dreien für eine Weile hinterher zu blicken. Vielleicht war es ja doch nicht so wichtig, wo man geboren war, wenn alles was man liebte, zu neuen Landen aufbrach. Marta, seine fünfjährige Nichte, hielt ihren kleinen schwarzen Stoffdrachen fest an sich gepresst und schaute mit großen, ängstlichen Kinderaugen zu ihm zurück. Er hatte ihr fest versprechen müssen, dass er gleich zu ihnen kommen würde, wenn sie in Nordheim angelegt hatten. Jetzt presste sich die Kleine an den Körper ihrer Mutter. Bedauernd nahm Ivar zur Kenntnis, dass seine Schwester ihre Tochter nicht zu bemerken schien, sondern weiter gedankenverloren in die schäumende Gischt der Wellen starrte. "Die See ist rau heute morgen". Ivar hatte nicht bemerkt, dass sein Vater neben ihn getreten war. "Neem war gar nicht begeistert darüber, heute auf das Schiff zu müssen", sagte Ivar statt zu antworten.
"Deine Schwester war von Anfang an gegen meinen Entschluss. Es war eine gute Entscheidung, sie jetzt schon auf das Schiff zu bringen. Mach dir keine Sorgen, zwischen meinem Schiff als Flottenkopf und mit dir und deinen Männern als Nachhut sind die Mädchen am sichersten." Nur zu gerne wollte Ivar seinem Vater glauben, aber das schlechte Gefühl in der Magengegend blieb, auch als er noch einige organisatorische Dinge mit seinem Vater durchging.


Neem starrte weiter in die kleinen, weißen Strudel neben dem Ruderboot.
"Die Welt bewegt sich. Ich kann nur kurz den Strand sehen, dann ist da wieder nur Wasser, so unendlich viel Wasser. Da ist wieder für eine Augenblick das Land, war da mein Vater? Vögel am Himmel, sie rufen mich, ich soll zurückkommen, rufen sie. Wieder nur Wasser. Es zerschneidet meine Welt. Feuer wäre jetzt gut. Kurz der Strand, er wird geschluckt von den hohen Wellen. Nein, wir verschwinden in den Wellentälern, verzweifelt schreien die Vögel nach mir. Ich sehe sie jetzt klarer, es sind Raben, sie sind so schwarz wie das Haar meiner Mutter. Was sagst du, Mutter? Zu wenig Feuer? Verschlingende Wellen. Ich muss ruhig bleiben, für Ivar und Vater, habe es Ivar versprochen, das Wasser ist dunkel. Die Stimmen merken, dass ich sie nicht hören will und schreien zusammen mit den Raben. Schwarzes Wasser unter uns, schwarze Wolken im Himmel und Stimmen die nach mir schreien und nach Feuer. Ich darf nicht noch weiter von den Stimmen getrennt werden. Das Boot, alles ist falsch, Feuer sollte es sein, nicht schwarzes Wasser oder ein enges Boot. Nicht mehr auszuhalten, ich muss zu den Stimmen, muss ins Wasser. Das Land ruft mich an seine Ufer, das Meer in seine Tiefen, Feuer bedeutet Licht, Licht bedeutet Leben, die Stimmen schreien in meinem Schädel."

Gleich mehrere Frauen schrien entsetzt auf, als Neem in das eisige Wasser sprang. "Sie ist im Wahn!" "Zieht sie zurück ins Boot!" "Haltet sie fest!" "Sie wird ertrinken!" Alle riefen aufgeregt durcheinander als Neem wieder durch die Wasseroberfläche brach und zum Boot zurück schwamm, jedoch nicht, um wieder hineinzuklettern, sondern wie von Sinnen nach Meddy zu schreien und ihre zweite kleine Tochter beim ihrem Ärmchen zu packen. "Bei den Göttern, sie will die Kinder ins Wasser ziehen!" schrie Martas Amme und zerrte nun ebenfalls an dem Kind. Manche der Frauen begannen nach Neems Fingern zu schlagen, die Stoffpupe der Kleinen fiel ins Wasser, worauf hin Marta entsetzlich zu schreien begann. Schnell verließen Neem im kalten Wasser die Kräfte, ihre Arme und Beine brannten, und sie konnte die Zehen ihrer Füße nicht mehr spüren. Sie wusste, dass sie zurück an den Strand schwimmen musste. Keuchend lies sie das Ärmchen ihrer Tochter frei. Entsetzt über die Einsicht, dass sie ihre Kinder im Boot zurücklassen musste, starrte sie ihm einen Augenblick lang nach, ehe sie sich durch die tosenden Wellen in Richtung Strand kämpfte. Immer wieder zog das unruhige Wasser sie an ihren nassen Kleidern nach unten, während Salzwasser und Tränen sich in ihren Augen vermischten, bis sie endlich keuchend und prustend von einem Mann ihres Stammes gesehen und ans Ufer gezogen wurde. "Na, na, junge Frau, ist ein bisschen zu kalt zum Baden oder? Schätze Snorri wird wenig begeistert sein über deinen kleinen Ausflug."
"Sei still und hör mir zu, du Narr! Du bringst meinem Vater eine Fackel und sagst ihm, dass die Walküren aus Valhalla ihn im Dunkeln auf hoher See nur schwer finden können! Hast du das verstanden?" Neem hatte den völlig verdutzten Seemann am Kragen gepackt und starrte ihn mit wilden Augen an.
"Wenn du dich jetzt nicht sofort auf die Suche nach einer Fackel und meinem Vater machst, ich schwöre dir, ich verfluche dich bis ins nächste Leben!" Der Mann beeilte sich mit dem Nicken und versicherte ihr mit holpriger Stimme zu tun, was sie verlangte.

Snorri und Ivar waren gerade mit ihren Vorbereitungen fertig geworden, als einer der Männer mit einer Fackel in der Hand zu ihnen gestürzt kam. "Bitte, hier ist die Fackel Herr, aber sagt ihr, sie soll keinen Fluch über mich aussprechen!" flehte der Seemann seinen Herrn an.
Es brauchte Snorris und Ivars ganze Geduld, um von dem Burschen in Erfahrung zu bringen, dass Neem am Strand aufgetaucht war und von Fackeln und Walküren gesprochen hatte.
Ivar schluckte schwer, bevor er sich an seinen Vater wandte: "Ich werde mein Wort halten und auf mein Schiff gehen, Vater. Ich werde unser Volk nicht im Stich lassen."
Snorri sah ihm den inneren Kampf an, den sein Sohn zu kämpfen hatte. "Geh und suche deine Schwester Junge, es genügt vollkommen, wenn du in ein paar Stunden nach kommst." "Aber Vater..." "Nein", unterbrach Snorri seinen Sohn, "Geh und suche meine Tochter, ich wünsche es. Du hast mich heute sehr stolz gemacht, mein Sohn. Ich weiß, dass du gegen diese Reise bist, trotzdem hast du mich so tatkräftig unterstützt wie du konntest. Ich danke dir. Komm nach, wenn du sie gefunden hast und wir sehen uns auf der anderen Seite wieder."
"Wenn es dein Wunsch ist, werde ich sie suchen und finden, Vater. Aber dann erfülle auch mir einen Wunsch und nimm die Fackel an." Snorri nickte und steckte die Fackel an seinen Gürtel. "Ich glaube, das ist ein fairer Handel. Du bist ein guter Nachfolger, ich kann mich sehr glücklich schätzen. Pass auf dich auf, Sohn." Am Strand hatten Snorris Männer das Ruderboot zu seinem Schiff ins Wasser gelassen und warteten auf ihren Herren. Bedächtig griffen Vater und Sohn nach dem Unterarm des anderen und legten zum Abschied die freien Hände auf die Schultern. Stumm sahen sie sich einen langen Moment in die Augen und teilten eine Nahe, die nur zwei aufrichtige Männer teilen konnten und die tiefer und klarer war als Worte es je sein konnten. Noch einmal nickten sie sich zu, ehe Snorri mit erhobenen Haupt und stolzem Schritt zu seinem Boot ging, ohne sich noch einmal nach seiner verlorenen Heimat umzudrehen.


Voll Groll machte sich Ivar auf die Suche nach seiner Schwester. Zusammen mit seinen Männern suchte er zuerst den Strand nach ihr ab. Danach suchten sie weiter im Landesinneren, aber die Stunden vergingen, ohne auch nur die geringste Spur von Neem. Ivar konnte auch nicht sagen, wohin Neem zurückgelaufen sein könnte, da einfach alles, was zu ihnen und ihrem Volk gehörte auf dem Weg nach Nordheim war.
Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als Ivar die Raben im hügeligen Hinterland kreisen sah. Dort hätte alles sein können, ein guter Nistplatz, ein frisch eingesätes Feld, der Kadaver eines verendeten Tieres, eine Schwester...
Dort konnte alles sein. Trotzdem rannte Ivar so schnell, dass seine Lungen brannten als er endlich an der rabenumkreisten Stelle ankam. Neem kniete neben einem abgestorbenen Baum auf der Erde. Die sonst eher scheuen Vögel hüpften kreischend und frech neben und auf ihr herum. Wut mischte sich in Ivars erste Erleichterung. Er hatte Lust sie zu ohrfeigen, diesen Drang bekämpfte er nur mühsam als er zu ihr ging und sie auf seine Rufe in keinster Weise reagierte.
"Neem!" er kniete sich vor sie und packte seine Schwester an den Oberarmen, "warum bist du nicht im Boot geblieben? Du hast mir versprochen, wenigstens heute keinen Ärger zu machen!" Neem öffnete die Augen. Ihre Augen waren derartig verdreht, dass Ivar nur das Weiße darin erkennen konnte. Erschreckt begann er sie zu schütteln. "Bei den Göttern, Neem komm zu dir! Tue mir das nicht an, bitte!" Sie gab ein ersticktes Keuchen von sich, ehe sie sich in einem Schwall schwarzem Meerwasser heftig übergab. Sie hustete um danach gleich nochmal jede Menge Salzwasser hochzuwürgen. Die schiere Menge des Wassers reichte, Ivar um Neems Leben fürchten zu lassen. Wo bei allen Göttern kam so viel Wasser überhaupt her? Er stützte ihren schweißnassen Kopf und klopfte ihr sanft auf den Rücken, während er beruhigend auf sie einredete. Endlich konnte Neem japsend nach Luft schnappen. "Betrug, Bruder!" Schmerzhaft fest klammerte sie sich an ihn. Beide waren inzwischen voller Meerwasser. Die Nacht hatte die Dämmerung abgelöst, trotzdem erkannte Ivar den Schmerz in Neems Augen. "Warum hast du mich hier her gebracht? Ich wollte bei meinen Mädchen bleiben und jetzt sind sie alleine da unten!" Schluchzend umschlang Neem ihren Oberkörper, als würde sie unter einem unerträglichen Schmerz leiden. "Jetzt muss Vater sie zu unserer Mutter bringen. Er wird all seinen Brüdern und Schwestern heimleuchten, wenigstens hat er die Fackel, es ist so schrecklich kalt da unten."


Ivars Männer trauten ihren Augen kaum, als ihr Herr mit seiner Schwester auf dem Arm zu ihnen gerannt kam. "Wir müssen los, sofort!" brüllte er ihnen, keuchend vor Anstrengung, entgegen. Schnell machten sich die Männer daran, den Befehl ihres Herren Folge zu leisten. Sie ruderten im Eiltempo zu ihrem Schiff. Schnell war die Eisstern unter Ivars fachkundiger Führung auf Kurs gebracht und flog auf den stürmischen Wellen Richtung Norden.

Es dämmerte, als die Eisstern endlich die Trümmer der einst so stolzen Flotte erreichte. Fassungslos starrte die Mannschaft auf die Reste ihres Volkes. Zu groß war der Schmerz, als das irgend Jemand fähig gewesen wäre, dem Ausdruck zu verleihen, was er fühlte. Schwer spürte Ivar, Sohn des Snorri, das Gewicht der Verantwortung, dass ihn beinahe in die Knie zwang. Als er sich zum Bug nach vorne schleppte, war er sich noch nicht sicher, ob er die Kraft hatte nicht den letzten Schritt ins Wasser und das Vergessen zu gehen. Was um alles in der Welt war geschehen? Am Bug angekommen konnte Ivar die Trümmer und Leichen im Wasser genauer erkennen. Dann erregte ein zerstörter Schiffsrumpf seine Aufmerksamkeit. Das Teil war nicht von einem nordischen Schiff, es gehörte zu einem Kriegsschiff, wie sie in Vir'Vachal gebaut und verwendet wurden. Ivars Trauer und Verzweiflung wurden in heißen Wellen der Wut hinweggespült und der Wunsch nach Rache packte sein Herz mit eisigen Klauen. Deutlich hörte er die Klagelaute seiner Männer immer dann. wenn sie wieder ein bekanntes Gesicht im Wasser sahen oder den Körper eines Kindes aus den dunklen Fluten zogen. Ivar drehte sich zu seiner Mannschaft um, seine neue Autorität ließ die Männer innehalten. Gebannt hörten sie die Worte ihres neuen Herrschers. Er redete von der Trauer nicht hier mit den anderen im Kampf gefallen zu sein, von der Verantwortung die der Tod ihres Volkes auf sie legte, von der Chance auf Gerechtigkeit und der Hoffnung, die gegen das Vergessen stand. Neem stand abseits an Deck und beobachtete, wie die Männer sich gefasst aufrichteten und ihrem neuen Anführer Treue schworen. "Heute ist ein Tag der Trauer, Männer! Lasst uns dem jetzt Ausdruck verleihen, damit wir, wenn der Tag der Vergeltung kommt nicht mit unserer Trauer und Verzweiflung in die Schlacht gehen, sondern mit Aufrichtigkeit und Stärke!" Lautes Gebrüll folgte auf Ivars Worte und nicht wenige Männer schnitten sich ins eigene Fleisch um den Toten Ehre zu erweisen. Ivar brachte von allen das größte Opfer. Er schnitt sich ohne zu zögern ein Auge aus dem Schädel. Nie wieder wollte er so viel Leid sehen. Kein Anführer sollte sein Volk und seine Kultur verlöschen sehen. Ivar hoffte, die Götter würden sein Opfer annehmen und zukünftige Generationen Nordheims gnädiger behandeln.


Die restliche Reise verging für die Mannschaft der Eisstern in einem Zustand von Schock und langsamen Begreifen.
Es war geplant gewesen, ein kleines Boot als Vorhut nach Nordheim vorauszuschicken. Dieses sollte die Ankunft der Flotte den Druiden ankündigen. Man hatte ein großes Begrüßungsfest für die heimkehrenden Nordheimer vorbereitet, Fahnen sollten gehisst, Blumen gestreut und ein großes Fest gefeiert werden.
Nichts davon geschah.
Die Eisstern machte ihrem Namen alle Ehre, als sie lautlos und weitgehend unbemerkt, in den nächtlichen Hafen einlief und an einem der vielen Anleger festmachte, die für das heimkehrende Volk bereits frei gemacht worden waren. Die wenigen Hafenwächter ahnten schlimmes, als sie die Eisstern und ihre Seeleute sahen. Die Flagge auf Halbmast, die Gesichter stumm und ernst, brauchte es nicht viele Erklärungen.
Man schickte eine eilige Nachricht zu den Druiden, die sofort eine Versammlung einberiefen. Schon einen Tag später war es Ivar, Sohn des Snorri, möglich, vor dem Rat zu sprechen. Entsetzt und tief erschüttert nahmen die ehrwürdigen Frauen und Herren des Rates die schlimmen Nachrichten zur Kenntnis.
Es war ein hochoffizielles Dokument ausgehandelt und unterzeichnet worden, dass den sicheren Abzug der Nordheimer garantiert hatte. Alle Forderungen der Vir'Vachaler hatte man erfüllt; dass die Vertragspartner trotzdem die wehrlosen Menschen auf dem Rückzug angegriffen und getötet hatten, machte die Druiden fassungslos! Wie sollte man einem solchen Bruch der Ehre und Aufrichtigkeit begegnen? Mutlos und tief traurig mussten die Weisen sich eingestehen, dass Vir'Vachal sie mit diesem Verrat gedemütigt, ja regelrecht sprachlos gemacht hatte. Es gab keine Worte mehr für Verrat und Lüge.
Die Druiden gestanden sich selbst ein, vor solch einem Verhalten machtlos zu sein, und sie beschlossen schweren Herzens, die Zunge durch das Schwert sprechen zu lassen. Sie bestimmten mit äußerster Sorgsamkeit und Weitsicht Ursus McFiann zum Uljarl und Kriegsführer.
Der Jarl des Bergvolkes "Fianna" sicherte Ivar seine Unterstützung zu. Er schien zu begreifen, dass Ivar eher im Kampf um seine verlorene Heimat sterben würde, als sich geschlagen und gedemütigt auf eine Insel zurückzuziehen, die den schönen Namen Syströming (vergammelter Fisch) trug.


Zurück nach: Sagen und Geschichten / Nordheim / Hauptseite