Ein Fremder in der Halle des Sturmrates

Aus www.erkenfara.com

Ich wusste nicht, was mich erwartete, als man mich in den Isenstein führte. Der Felsgang war dunkel und schmal, und ich musste dicht hinter den Kriegern hergehen, die mich begleiteten. Plötzlich öffnete sich der Weg, und ich trat in eine Halle, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte: gewaltig, von Feuer und Schatten gleichermaßen erfüllt, als stünde ich in einem lebendigen Berg, der atmete und grollte.

Die Jarle kamen einzeln herein. Ihre Banner flatterten im warmen Windzug, der aus unsichtbaren Spalten im Gestein drang. Jeder Schritt hallte wie Donnerschlag, und ich fühlte mich klein, ja fremd, zwischen diesen Männern und Frauen, deren Gesichter von Narben und Frost gezeichnet waren.

Als alle ihren Platz gefunden hatten, trat der Sturmratsführer hervor. Ein hagerer Mann, mit grauem Haar und einem Mantel aus Wolfsfell, der schwerer wirkte als jede Rüstung. Er legte die Hand auf sieben Steine, die im Kreis um die merkwürdige Maschine standen. Bei jedem Stein sprach er einen Namen, den ich nicht verstand. Aber als er es tat, erhoben sich alle Jarle, und die Halle wurde still – so still, dass ich das Pochen meines eigenen Herzens hören konnte. Ich wusste: hier ehrten sie die Toten, und dass ihr Recht auf Blut gegründet war.

Dann entzündete der Sturmratsführer eine Flamme. Der Rauch stieg spiralförmig empor, und er rief die Götter an. Ich verstand die Worte nicht, doch ihre Wucht ließ mich erschauern. Als die Jarle ihre Hände auf ihre Banner legten und schworen, nichts als Wahrheit zu sprechen, spürte ich selbst, wie schwer die Luft wurde, als sei eine unsichtbare Macht über uns herabgestiegen.

Plötzlich setzte sich die Maschine in Bewegung. Ein Donnern, tief und unheimlich, erfüllte den Raum. Zahnräder, die sich wie von selbst drehten, Runen, die aufleuchteten. Ich trat instinktiv zurück. Die Männer und Frauen aber blieben ungerührt, als sei dies für sie nichts Neues.

Dann erhob der Uljarl, Ursus McFiann, seine Stimme. Er war ein Riese von einem Mann, mit einem Blick, der schärfer schnitt als ein Schwert. Und doch sprach er mit ruhiger Würde, als sei er nicht Herr über die Jarle, sondern ihr Hüter. Die Halle vibrierte bei jedem seiner Worte.

Die Beratungen begannen. Ich verstand nur Bruchstücke, aber ich sah, wie die Maschine manchmal grollte, wenn jemand sprach – ein unheimliches Grollen, das den Steinboden zittern ließ. Die Jarle blickten dann sofort zum Sturmratsführer, und er nickte oder schüttelte den Kopf, als lese er in den Runen ein unsichtbares Urteil.

Es dauerte Stunden, vielleicht länger – die Zeit verlor hier ihre Bedeutung. Am Ende löschte der Sturmratsführer die Flamme mit Wasser, das aus einer Schale spritzte und zischend verdampfte. „So erlischt der Streit, so bleibt das Recht“, sprach er, und seine Stimme hallte wie ein Befehl, der nicht widerlegt werden konnte.

Die Jarle verließen die Halle, wieder in derselben Ordnung, wie sie gekommen waren. Ich aber blieb einen Moment zurück, unsicher, ob ich überhaupt würdig gewesen war, Zeuge zu werden.

Und da sah ich sie, die Maschine des Rechts – still, doch nicht tot. Ihre Räder schimmerten im Restlicht der Fackeln, als würde sie mich selbst mustern. Ich wandte mich ab, fröstelnd trotz der Hitze des Vulkans.

Denn ich wusste: in diesem Land war das Recht kein Wort und kein Vertrag, sondern eine Macht, die lebte, grollte und urteilte – unerbittlich wie der Sturm.


Der Fremde verlässt den Isenstein

Als die Hörner des Endes verklungen waren, führte man mich hinaus aus der Halle. Der Weg durch den Felsgang schien länger als zuvor, vielleicht, weil mein Herz noch bebte von den Eindrücken. Das Donnern der Maschine klang mir in den Ohren nach, selbst als wir den Ausgang erreichten.

Dann trat ich hinaus. Kalte Abendluft strömte mir entgegen, und der Himmel über Nordheim war voller Wolken, die wie ein graues Meer über den Gipfeln trieben. Ich atmete tief, erleichtert, wieder unter freiem Himmel zu stehen – und doch fühlte ich mich verändert, als hätte der Berg selbst mir etwas von seinem Gewicht mitgegeben.

Unweit des Tores, dort, wo der Pfad sich durch Geröll und Felsen wand, saß ein einsamer Wanderer. Ein Mann in grobem Mantel, ein Auge verhüllt, ein Speer neben sich in den Staub gelehnt. Er wirkte, als sei er schon lange dort, doch ich war mir sicher, ihn zuvor nicht bemerkt zu haben.

Er nickte mir zu, als hätte er auf mich gewartet.
„Du warst drinnen,“ sagte er mit rauer Stimme, „im Rat der Jarle.“

Ich zögerte, unsicher, ob man mit Fremden über das sprechen durfte, was man im Isenstein gesehen hatte. Doch sein Blick war ernst, und irgendwie fühlte ich, dass ich ihm antworten musste.
„Ja,“ sagte ich leise, „ich habe es gesehen.“

Der Mann beugte sich etwas vor. „Und? Was sahen deine Augen? War es Macht? Oder Wahrheit? Oder nur das Spiel der Menschen, wie es überall gespielt wird?“

Ich rang nach Worten. „Es war … mehr als Worte. Als hätten Götter den Raum erfüllt. Und doch waren es Menschen, die sprachen. Ich sah Banner, Runen, eine Maschine, die hörte und urteilte … Ich verstand nur wenig. Aber ich fühlte, dass es größer war, als ich.“

Der Mann nickte langsam, und ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht. „So soll es sein. Wer den Sturmsaal betritt, verlässt ihn nie derselbe. Die Jarle sind wie Wellen – sie schlagen, sie prallen, sie ringen. Doch der Berg ist älter als sie, und er trägt ihr Recht in sich, ob sie es begreifen oder nicht.“

Er nahm seinen Speer auf, stützte sich daran und erhob sich. „Merke dir, Fremder: Recht ist mehr als das Schwert. Aber ohne das Schwert kann Recht nicht bestehen.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab, den Pfad hinauf, als wäre er nur ein weiterer Reisender. Doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen. Es war etwas an seiner Haltung, an dem Speer, an dem einen Auge – ein Gewicht, das weit größer war als der eines gewöhnlichen Mannes.

Und doch: ich erkannte ihn nicht. Ich sah nur einen geheimnisvollen Krieger, der in den Nebel des Nordens verschwand, als sei er nie dagewesen.


Die Heimkehr des Fremden

Wochen später, nach einer langen und beschwerlichen Reise über Sturmsee und Gebirge, erreichte ich endlich wieder meine Heimat. Die vertrauten Felder und Wälder schienen mir klein geworden, eng, beinahe zerbrechlich nach den endlosen Weiten Nordheims.

In der Schenke meines Dorfes drängten sich die Leute um mich, neugierig, was ich in den fernen Ländern gesehen hatte. Ich sprach vom Schnee, der wie Glas glänzte, von Wäldern so groß, dass kein Ende zu sehen war, und von Hallen, in denen Feuer und Schatten miteinander tanzten. Doch immer wieder kehrte ich in Gedanken zurück zu zwei Erlebnissen: der Halle des Sturmrates und dem geheimnisvollen Krieger am Tor des Isensteins.

„Er war von gewaltiger Gestalt,“ erzählte ich, „ein Auge war verhüllt, und er trug einen Speer, wie ich ihn nie zuvor sah. Er sprach, als wisse er alles, was ich erlebt hatte. Seine Worte waren schwer wie das Grollen des Berges selbst. Doch dann verschwand er, als sei er nie gewesen.“

Ein alter Mann neben dem Herd lachte leise. „Ach, du hast wohl einen abgekämpften Krieger getroffen, einer von den vielen, die in den Norden ziehen und ihre Narben heimtragen. Dein Verstand hat mehr hineingelesen, als da war.“

Die anderen nickten, manche spöttisch, manche mitleidig. „Ein Auge, ein Speer, ein Mantel – das klingt eher nach einem Landstreicher, nicht nach einer Geschichte, die man weiterträgt.“

Ich schwieg. Was hätte ich sagen sollen? Dass ich in seinen Augen das Gefühl gehabt hatte, von etwas Größerem gesehen zu werden? Dass sein Speer mehr war als eine Waffe, dass sein Blick tiefer ging als jeder menschliche?

Doch ich hatte keinen Beweis, nur mein Empfinden. Also ließ ich ihre Zweifel gelten.

In der Nacht jedoch, als ich allein lag, hörte ich das Grollen des Isensteins wieder in meinen Träumen und sah den einäugigen Wanderer, wie er mir zunickte, als wisse er längst, dass ich nie vergessen würde.

Und so erzähle ich es euch – nicht als Gewissheit, sondern als Erinnerung: Ich war in Nordheim, ich sah die Halle des Sturmrates, und ich begegnete einem Mann, der mehr war, als ich verstand. Ob er ein Gott war, weiß ich nicht. Aber seitdem sehe ich die Welt mit anderen Augen.


Als die Wochen vergingen und die Stimmen meiner Nachbarn verklangen, nahm ich Feder und Pergament zur Hand. Ich wollte nicht, dass die Bilder Nordheims sich nur in meinen Gedanken verlieren – sie sollten bestehen, auch wenn niemand meinen Worten glauben mag.

So schrieb ich:

Nordheim ist ein Reich, das aus Feuer und Eis geboren scheint. 
Seine Berge sind nicht bloß Stein, sondern lebendige Bollwerke, in denen der Donner schläft.
Die Wälder sind von solcher Größe, dass ein Mensch darin verschwinden kann wie ein Tropfen im Meer.
Der Sturmsee trägt Schiffe wie Spielzeug, und doch gebietet er Respekt, denn er verschlingt die Unachtsamen.
Die Menschen dort sind hart, aber wahrhaftig. Ihre Gesichter sind vom Wind gegerbt, ihre Augen leuchten wie glühende Kohlen, wenn sie vom Ruhm ihrer Ahnen sprechen.
In ihrer Sprache liegt Kraft: ‚Skjalf heill!‘ rufen sie einander zu – ‚Sei stark und heil!‘ – ein Gruß, der wie ein Schwur klingt.
Ich habe die Halle des Sturmrates gesehen, tief in den Bauch des Isensteins gehauen. Dort entscheidet eine gewaltige Maschine, die sie ‚das Recht‘ nennen, über Schuld und Unschuld. Metallene Zahnräder, Runen und das Flackern des Feuers verbinden sich zu einem Werk, das ebenso unbegreiflich wie erhaben wirkt.
Angeführt wird der Rat von einem Mann von eindrucksvoller Würde – dem Sturmratsführer –, während über allem der Uljarl Ursus McFiann wacht. Ein Herrscher, der den Göttern treu bleibt und die Runen als ihre Zeichen ehrt.
Ich weiß nicht, ob ich einem Gott begegnete oder nur einem Krieger mit tiefem Blick. Aber ein Mann mit einem Auge und einem Speer hieß mich willkommen in Nordheim. Seine Worte hallen noch immer in mir nach, wie der Donner, der sich über die Berge wälzt.“

Ich legte die Feder nieder und blies die Kerze aus.
Was von Nordheim bleibt, sind diese Worte – ein schwacher Abglanz eines Landes, das größer ist, als jede Schrift es fassen könnte.

Und wer immer meine Aufzeichnungen liest, soll wissen: Nordheim ist kein Ort, den man mit den Füßen begreifen kann, sondern mit dem Herzen.


Zurück nach: Sagen und Geschichten / Nordheim / Hauptseite