Begegnung im Schneesturm
Der Skalde erzählt am Feuer:
„Es war in der Nacht, da der Nordwind sang wie tausend Hörner, und der Schnee fiel wie ein endloses Heer von weißen Speeren. Ich war allein im Hochland von Drakeguld, und der Sturm umhüllte mich wie ein Grabtuch.“
Da hörte er plötzlich ein leises Rufen, nicht vom Wind, sondern aus der Tiefe der Stille. Vor ihm erschien eine Gestalt:
- Ihr Haar war weiß wie Reif, flatternd wie Schleier im Sturm.
- Ihr Gewand bestand aus Eis, das in tausend Splittern funkelte, und doch war es weich wie Schnee.
- Ihre Augen waren blau wie das Herz des Gletschers, und wer in sie sah, erkannte zugleich Leben und Ende.
Der Skalde fiel auf die Knie und sprach:
„Freyja? Bist du’s, Herrin der Liebe im Eis? Oder Hel, die mich heimholen will?“
Doch die Frau lächelte nicht. Ihre Stimme war wie das Knirschen von Schnee unter Eisenstiefeln:
„Ich bin weder die, die dich lockt, noch die, die dich holt. Ich bin die Kälte, die euch prüft. Ich bin die Stille, die euch formt. Ich bin Skjaldís, Tochter des Schnees, Mutter der Stürme. Mich rufst du nicht, doch ehrst du mich, wenn du im Winter lebst – oder stirbst.“
Dann hob sie die Hand, und mit ihr hob sich der Sturm. Aus den Flocken trat ein riesiger Schatten: ein Schneeeulenbär, dessen Augen wie zwei Sterne im Dunkel brannten. Er stellte sich neben die Göttin, als sei er ihr treuer Wächter.
Noch ehe der Skalde antworten konnte, verschmolzen beide mit dem Schneetreiben – und als die Sonne den Morgen brachte, war er allein.
Doch in seinem Herzen trug er das Wissen:
Er hatte die Herrin des ewigen Schnees gesehen,
und kein Lied der Welt würde je klingen,
ohne dass er das Wispern ihres Winterliedes hörte.
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