Saga von Nyssa Njørdsdottír

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Die Saga von Nyssa Njørdsdottír

Es begab sich zu einer Zeit, als die Reitervölker von Vinland sich zur Heerschau begaben, als die Geschichte zur Legende wurde.

Seit Tagen schon ritten die Männer aus dem Nomadenvolk der Kriegerreiter nun schon über die flachen Ebenen Vinlands. Es waren mehr als drei Dutzend Krieger samt ihrer Pferde. Imposante Tiere mit tellergroßen Hufen und der Größe eines jungen Baumes. Sie waren alle von dunkler Farbe und strotzten vor Kraft. Wenn sie galoppierten hörte sich ihr Hufschlag wie der Donner Thors an und konnte gegnerische Reihen in die Flucht schlagen. Sie trugen einen langen Behang, der ihnen teilweise über die breiten Schultern hinweg. Wenn die Tiere Geschwindigkeit aufnahmen, flog die Mähne in alle Richtungen und suggerierte noch mehr Masse. In Einheit geritten waren die Pferde Vinlands eine Welle, die über die weiten Heiden donnerte.

Ihr Weg führte an Klippen und Stränden entlang. Sie hatten den Meeresweg eingeschlagen, weil sie unterwegs ein paar Dörfern besuchten, um ihnen Kunde zu bringen. Das Wetter war ruhig und das Meer schien eine weite Ebene zu sein. Spiegelglatt konnte man in ihm den Himmel sehen. Dies konnte ein gutes Omen sein, denn wenn sich im Meer Midgards Asgard und Vanaheim spiegelten, dann schauten die Götter herab. Die Männer waren unruhig und die Pferde spürten dies. Aus ihrem Dorf waren alle Krieger zu Pferde losgeritten, um nach Meinz zu reisen. Die jungen Krieger, die zum ersten Mal den Stammsitz des Jarls von Vinland sehen sollten, um dort ihre Treue zu schwören, ließen ihren Tieren euphorisch die Zügel locker und so preschten sie schon längst über die herannahende Gischt am Strand. Die Jüngeren schienen in ihren Sätteln und mit ihren Tieren verwachsen zu sein und wer ihre Kultur kannte, wusste, dass sie bereits bevor sie auch nur den ersten Schritt taten, schon von ihren Eltern auf den Pferderücken gehoben wurden. Die Älteren, allen voran Björn Pferdefuß, folgten schnellen Hufes. Björn Pferdefuß, ein Hüne in Gestalt, mit breiten Schultern, langen tiefschwarzen Haaren und einem langen, wilden Bart, in dem viele Perlen eingearbeitet waren, galt als einer der besten Kämpfer Vinlands, was dazu führte, dass das Volk von Virfill, dem Nomadenstamm, ihn schon in jungen Jahren zu ihren Anführer machten. Das war nun zwanzig Jahre her und Björn spürte sein Alter zunehmend, doch wenn auch nur einer dieser ungezähmten Burschen, die über den Strand jagten, ihm den Titel streitig machen wollte, würde Björn sein Können unter Beweis stellen und sie in die Schranken verweisen.

Der Sand wurde von donnernden Hufen in die Luft geschleudert. Der Braune, der das Feld anführte, streckte den Hals und ließ die restlichen Pferde mehrere Längen hinter sich. Sein Reiter, Jören, war Sohn eines Pferdezüchters, dessen Pferde sogar schneller als die Ziegen Thors laufen konnten. Björn selbst ritt einen Hengst aus diesem Geblüt und nun ließ er ihn die Zügel frei. Donnerhuf, sein junger Schwarzbrauner, streckte sich in seiner Freiheit und machte seinem Namen alle Ehre.
Plötzlich scheute der Braune an der Spitze der Reiterei und der junge Reiter wurde aus dem Sattel geworfen. Die anderen Pferde blieben erschreckt stehen und buckelten teilweise. Als Björn die Gruppe erreichte und in den Trab wechselte, zwirbelte Donnerhuf nervös seine Ohren. Vor ihnen im Sand, nah der Brandung, lag ein Mensch, der sich nun regte. Mühselig stemmte die Person die Hände in den nachgiebigen Sand und raffte sich auf. Erschreckt blickten zwei Augen hinter wilder Mähne empor zu den riesigen Pferden.

Der Braune schlug wild den Kopf hin und her, schnaubte vernehmlich aus und trabte auf die Gestalt zu. Björn hielt den Atem an. Vinlands Pferde waren einstweilen aggressiv gegenüber Fremden und das Mädchen, das sich dort vorne erhob, war in großer Gefahr. Der Hengst blieb vor ihr stehen. Das massige Tier überragte sie um mehr als eine Schwertlänge und dann geschah etwas, was Björn niemals verstehen sollte; der Hengst senkte seinen Kopf und blies ihr seinen Atem ins Gesicht. Er bekundete ihr seine Freundschaft. Das Mädchen lachte befreit und zog den schweren Kopf an der Mähne nach unten, um ihn zu umarmen. Das Tier ließ es gefallen. Björn ritt nach vorne zu den beiden. Drohend stellte sich der Braune ihm in den Weg. Währenddessen war sein Reiter nach vorne geeilt. Früh lernten die Burschen sich bei einem Sturz abzurollen und so zeigte der Jugendliche abgesehen von zerzausten Haar und einer sandigen Tunika keinerlei Anzeichen eines Sturzes.

„Arvo! Hier!“, rief der junge Mann, eher Björn es sich versah. Arvo, der braune Hengst, machte keinerlei Anstalten seinem Herrn zu gehorchen. Alle hielten erschrocken den Atem an, als Björn von Donnerhuf abstieg und auf Arvo zuging. Der Hengst blieb kurz zwischen den beiden Menschen stehen, bevor er langsam den Kopf senkte und ein paar Schritte zur Seite ging. Der Anführer Virfills musterte das Mädchen. Sie schien kaum vierzehn Sommer zu zählen, hatte braune, zerzauste Haare und dunkle Augen. Die Kleidung schien ihm bürgerlich, eine einfache Tunika und darunter braune Hosen. Dennoch war es nicht die typische Kleidung eines Weibes von Nordheim. Sie trug keinerlei Schmuck und auch keine Schuhe. Ihre Haare waren offen und zerzaust und sie war am ganzen Körper nass. Unweit des Meeres konnte Björn also erahnen, dass sie schiffbrüchig war.

„Wie ist dein Name, Mädchen?“, fragte er eindringlich und stellte sich vor die kleine Gestalt. Schmächtig, wie sie war blickte sie auf. Ihr Blick war fest auf Björn gerichtet. Sie zeigte keinerlei Angst, eher zeigte sie Trotz.
„Ich habe dich was gefragt.“ Sie reagierte nicht auf Björns feste Stimme, sondern verschränkte die Arme vor der Brust, was Björn sehr verärgerte. Wie ein bockiges Fohlen stierte sie ihn an.
Ein zweiter älterer Krieger kam nach vorne. Sein Name war Brander und wie sein Name schon sagt, verstand er es sehr wohl sein Schwert zu führen. Er und Björn waren stets zusammen in den Kampf gezogen. „Wir müssen weiter, Björn. Es gibt zwischen hier und Meinz kein Dorf mehr, wo wir sie hätten hinbringen können. Was hast du mit ihr vor?“
Das Schwert der Reitervölker schaute hinab zu dem trotzigen Mädchen. Sie hielt seinem Blick stand und in diesem Moment wusste Björn, dass es göttliche Fügung war, sie zu finden.

„Sie kommt mit uns nach Meinz. Wir werden den Jarl entscheiden lassen.“ Er drehte sich zu Arvos Besitzer um. „Nimm sie auf dein Pferd, Jören. Arvo kann zwei Reiter tragen und vielleicht verleitet dich das Mädchen zu einem vorsichtigeren Ritt ohne größere Unfälle.“ Die anderen Burschen grinsten, während Jören seinen Hengst am Zügel nahm. Kurz musterte Björn das Mädchen erneut, zog dann eine Pferdedecke von seinem Sattel herunter und wickelte sie darin ein. Jören stieg auf Arvo und klopfte ihm beruhigend auf den Hals.
„So, Mädchen.“ Das Mädchen zuckte ein wenig zurück, als der Hüne auf sie zuschritt, aber Björn schnappte sich die halbe Portion und hievte sie hinter Jören in den Sattel, dann stieg er selbst auf Donnerhuf und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Der Ritt verlief auf seinem letzten Stück relativ planmäßig. Lediglich Jören fiel ein weiteres Mal von Arvo, aber wollte partout nicht sagen, was geschehen ist. Mit hochrotem Kopf rannte er hinter seinem Pferd her und Björn musste sich eingestehen, dass das Mädchen sich ohne Probleme auf den großen Hengst halten konnte. Sie ritten weiter ins Landesinnere und folgten den Handelsrouten. Die Kleidung des Mädchens trocknete indes und aufgeregt blickte sie sich um. Von überall her ritten junge und alte Krieger auf den Wegen nach Meinz. Björn begrüßte viele seiner Weggefährten und deren nun erwachsene Söhne. Oft waren auch Töchter dabei, gerüstet in Männerkleidung und nicht selten bewaffnet. Es herrschte eine gewisse Nervosität unter den Reihen. Die jüngeren unter den Kriegern schauten sich interessiert um und konnten von dem Treiben nicht genug bekommen. Selbst Jören vergaß das Mädchen hinter sich und zeigte enthusiastisch auf die stolzen Pferde und die reich verzierten Prunkwaffen der Krieger.

Die Felder um Meinz herum waren mit unzähligen Zelten belagert und überall herrschte wildes Treiben. Björn ließ seine Leute nahe dem Haupttor ihr Lager errichten. Dann überließ er alles Weitere Brander, nahm das Mädchen hinter sich auf Donnerhuf und ritt zum Tor hinein. Die Wachen grüßten ihn mit erhobenem Speer, was Björn mit einem Nicken erwiderte. Sie ritten an etlichen Langhäusern vorbei zu einer weiteren Umfriedung. Dahinter ragte die Stammburg des Jarls von Vinland empor. Björn gab Donnerhof bei einem jungen Mann ab und schritt mit dem Mädchen weiter zur Burg hinein.

Inmitten seiner Huscarls nahm der Jarl gerade sein Mittagsmahl ein und sprang erfreut auf, als er Björn gewahr wurde. Etliche Male schon hatten die beide Seite an Seite gekämpft und etliche Male hatte der Jarl Björn angeboten, sein erstes Schwert der Reitervölker zu werden. Doch jedes Mal, hatte der Hüne dem entsagt. Er war ein Mann des Feldes und liebte das einfache Leben in seinem Dorf. Freudig überreichte er ihm das Methorn zur Begrüßung und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schultern. Die Huscarls unter Führung Peter Thorsons standen auf, erhoben auch ihre Hörner und schrien ein gemeinsames „Wir trinken dir zu!“ und nahmen alle große Schlucke zu Ehren des großen Kriegers. Mit der Hand auf Björns Schulter geleitete der Herrscher Vinlands den Hünen zur Rechten seines Throns neben dem Führer der Huscarls. Dann bemerkte er das Mädchen.
„Wen hast du uns da mitgebracht, Björn? Scheint mir ein wenig jung für einen Krieger.“, fragte der Jarl. Björn erzählte die Geschichte des Mädchens und machte schnell klar, dass er sie für etwas Besonderes hielt. Währenddessen reichten ein paar der Huscarls, die Björns Ausführungen gefolgt sind, dem Mädchen reichlich Speis und Trank. Einiges davon wies sie mit Kopfschüttelt zurück, hauptsächlich verschiedene Fleischsorten, was auch den Großteil der Tafel ausmachte. Nachdem Björn geendet hatte, stand der Jarl auf.
„Komm nach vorne, Kind.“, wies er sie an und überraschenderweise folgte sie seiner Aufforderung. Angekommen beim Thron kniete sich der Jarl vor das Mädchen und sah ihr eindringlich in die Augen.
„Wie heißt du?“
Nyssa“, sprach sie schlicht und versiegelte wieder die Lippen. Der Herrscher nickte und stand wieder auf. Im gesamten Raum war es still geworden.
„Schickt nach der alten Sylka. Sie soll die Runen legen.“

Die alte Sylka wurde ihren Namen gerecht. Älter als die Zeit schien sie zu sein. Ihre wenigen Haare waren weiß und Furchen in ihrem Gesicht zeigten die Erfahrung zweier Leben. Als sie in der Methalle erschien, verstummten die Gespräche und ihr wurde sofort Platz gemacht. Ehrfürchtig standen selbst die Huscarls in Reih und Glied und wagten kaum zu atmen. Gezielt ging sie auf Nyssa zu. Vor ihr blieb sie stehen und stellte den Kopf katzenartig zur Seite. Ihre Augen leuchteten auf und ein Grinsen zeigte einen zahnleeren Mund.

„Kind, das vom Meer kam.“, flüsterte sie und griff in eine ihrer Taschen in ihrer scheinbar zerlumpten Kleidung. Zum Vorschein kamen verschieden Knochen, kleine Äste und bunte Steine. Darauf geschrieben und gekratzt, Runen. Mit den Blick auf Nyssa gerichtet warf sie die Runensteine auf den Boden. Dann kniete sie sich ächzend hinab.
Nyssa“, sagte sie andächtig und schob ein paar Runensteine zusammen. „Dein Weg war weit. Deine Bestimmung ist hier.“ Sie nahm Nyssas Hand in die ihrige. „Nyssa Njørdsdottír sollst du heißen, denn Njørd hat dich geschickt. Du wirst wandern auf Pfaden von Schmerz, doch soll der Wind dich mit sich tragen.“ Sie schaute noch einmal zu den Runen und seufzte.
„Es wird der Tag kommen, an dem du wirst eine Entscheidung fällen müssen. Der Weg wird sich vor die spalten, wie von Thors Hammer gebrochen. In der einen Richtung wirst du brechen und in der anderen Richtung wird es unser gesamtes Reich sein. Wähle weise.“

Ein Raunen ging durch die Methalle. Gestandene Männer blickten sich erschrocken um. Methörner fielen zu Boden. Eine solche Weissagung könnte den gesamten Untergang Nordheims mit sich bringen. Die alte Sylka erhob sich und schritt überraschend anmutig durch die Reihen. Alle blickten ihr hinterher, nur nicht Nyssa, die wie hypnotisiert auf die auf dem Boden liegenden Runen starrte. Kurz bevor Sylka durch das Tor der Halle hinaus schritt, drehte sie sich noch einmal um.
„Hört!“ Sylka schaute in die Runde und holte tief Luft, „Es wird Frühlingssonne sein, wenn Dunkelheit übers Land fällt. Blut wird fließen in Flüssen aus Feuer. Rache wird geboren sein, wo unwissend in Freiheit gefangen Kinderherz erwachsen wird.“ Donner begleitete diese Weissagung und die Alte verschwand zur Tür hinaus.

Der Jarl von Vinland musste sich kurz fassen, dann nahm er schnell Björn zur Seite.
„Lass sie nach Virfill bringen. Eine solche Weissagung kann man auch anders auffassen. Wenn hier jemand denkt, dass sie das Reich zerstören wird, kann ich nicht für ihre Sicherheit garantieren.“
Schweigend sahen die alten Freunde zu Nyssa, die sich einen der Runensteine griff und ihn beäugte. Björn schritt auf sie zu. Sie hatte einen Pferdezahn aufgehoben und drehte ihn auf die Seite. Dort war die Njørdrune eingeritzt.

Björn brachte Nyssa wieder nach draußen ins Lager. Nach einer kurzen Unterredung mit Brander, bei dem immer wieder bedeutungsschwangere Blicke zu dem Mädchen geworfen wurden, brachten Björn und die anderen Älteren die jüngeren Krieger zur großen Wiese am Rande von Meinz. Dort sollten Spiele und Kämpfe stattfinden. Hier würden sich die Halbstarken beweisen können, um die Reihen der Krieger aufgenommen werden zu können. Brander hingegen, obwohl er dem gerne beigewohnt hätte, schlug mit Nyssa den Weg nach Virfill ein, der wandernden Stadt.




Virfill war ein kleines Dorf mitten in der Grassteppe, umsäumt von hügeligen Landschaften. Ein Fluss reicherte die Ebene an und hinterließ eine reiche und gesunde Natur. Die Pferde hier hatten gutes Futter und frisches Wasser. Die Tiere selbst waren frei und ungebunden. Zügellos galoppierten sie über die Ebenen, aber blieben immer in der Nähe der Pferdemenschen.
Man nannte sie die wandernde Stadt, weil sie nicht an einem Ort blieb. Stadt war auch leicht übertrieben gesagt, wenn man bedachte, dass kaum 200 Menschen dort lebten und diese auch nicht im gesamten Jahr. Die Pferdemenschen waren seit jeher Nomaden, die den üppigen Graslandschaften und den Flüssen folgten. Die Häuser waren weitestgehend mobile Groß- und Kleinzelte. Doch vom Spätsommer bis zum frühen Winteranfang kamen die Pferdemenschen zu einem bestimmten Ort, wo sie für mehrere Monde ihre Zelte aufschlugen. Die Zelte umrahmten dann ein großes Langhaus, welches eins der wenigen festen Bauten war. Man nannte es Virfillborg. Die festen Häuser waren Unterkünfte derjenigen, die zu alt oder zu krank zum wandern waren. Auch fand man hier die Männer, die einem Handwerk nachgingen. Die Menschen aus dem Borg hegten die Tiere, die nicht auf Wanderschaft gingen, betrieben eine Schmiede, ein Sägewerk, eine Lederei und bestellten die umliegenden Felder. Die Krieger und Zureiter gingen mit den Tieren auf Wanderschaft, denn in Virfill herrschte der Glaube, dass ein Mann nur dann zum Mann werde, wenn er dem Pferd gleich die wilde Landschaft Vinlands bezwinge. Früh gingen junge Männer mit den Kriegern fort.
Im Frühjahr kam die große Wanderschaft bis hin zu den Küsten. Unterwegs stets auf der Suche nach den besten Weideplätzen für ihre Tiere. Die Wanderschaft dauerte bis der erste Schnee fiel, dann sprengten sich die Pferdemenschen in kleinere Familienclans auf und wanderten in Vinland umher, um die letzten Futterplätze aufzusuchen. Umzäunt war Virfillborg mit einer Hecke aus Dornenbüschen, die wilde Tiere vom Eindringen abhalten sollten. Es war ein friedlicher Ort. Zwischen den Zelten spielten Kinder, wohl genährte Wolfshunde liefen herum und vereinzelt stahlen sich Pferde in die Umfriedung, um nach Leckerbissen zu suchen.

Nyssa und Brander wurden überrascht, aber recht herzlich empfangen. Sogleich kam Branders Frau aus dem Langhaus gestürmt und hob drohend ein Küchenholz hoch. Leute kamen zusammen, denn Brander und seine Frau waren immer für ein gutes Schauspiel zu haben.
„Warst du wieder so betrunken, dass Björn dich heimschicken musste? Ich glaube es einfach nicht! Du machst mich zum Gespött von Virfill!“, schrie sie keuchend, da sie mit großes Leibesfülle gesegnet war. „Ich hätte den jüngeren Sven nehmen sollen. Der hatte zwar einen Drachen als Mutter, aber der hat sich beim Trinken zurück genommen.“
„Ramea“, Brander hob besänftigend die Hände. „Ich habe nichts getrunken, na ja, nicht viel. Björn schickt mich, das Kind hier nach Virfill zu bringen.“ Ramea stoppte und blickte fragend zu Nyssa.
„Wir fanden sie ganz allein am Strand der kalten Wellen kurz vor Meinz. Der Jarl will sie in unserer Obhut wissen. Sie heißt Nyssa.“ Plötzlich war es, als wurde bei Ramea ein Schalter umgelegt. Sie schob Brander mit einer harschen Bewegung bei Seite und zog Nyssa in eine Umarmung.
„Armes Kind, ganz alleine! Und an einem solchen Ort. Du musst keine Angst mehr haben, Ramea kümmert sich um dich.“, gurrte sie und zog Nyssa mit sich. Das Mädchen schien nicht ängstlich, sondern eher komplett befremdet, aber ließ alles ruhig mit sich geschehen. Brander blieb hingegen verloren zurück. Er schwankte zwischen dem beiden zu folgen und zurück zum Jarlshof zu reiten. Weit weg von seiner Frau. Einer der Männer, der dem Schauspiel gefolgt war, löste sich aus der gaffenden Menge und zog den Älteren mit sich, um ihn ein wenig von innen zu wärmen.




Drei Wochen gingen ins Land, ehe Björn von der Heerschau zurück nach Virfillborg kam. Viele neue Krieger hatten ihr Gelübde ablegen können und es waren ein paar darunter gewesen, von denen Björn glaubte, dass sie es in ein paar Jahren zum Huscarl bringen konnten. Auf seine eigenen Krieger war er sehr stolz. Sie hatten sich in den Spielen sehr gut geschlagen und hatten teilweise sogar richtig Eindruck hinterlassen. So war es Jören gelungen mit Arvo das Langstreckenpferderennen zu gewinnen und das mit grandiosen Vorsprung. Der Hengst schien danach nicht einmal schneller zu atmen und tänzelte nervös herum, als würde er die Strecke noch einmal laufen wollen.

Sie ritten nach Virfill hinein. Von überall kamen Kinder angerannt. Hunde bellten vor Freude und alle Bewohner liefen zur Ortsmitte. Björn nahm am Rande, neben Ramea stehend, Nyssa wahr. Brander nahm Donnerhufs Zügel.
„Sei gegrüßt, alter Freund.“, sprach Björn und stieg ab. Die Männer umarmten sich. „Ich hoffe, ihr hattet eine gute Heimreise?“
„Sei auch du gegrüßt, Björn. Ja, wir kamen gut durch die Ebenen. In Tararida wurden Wölfe gesehen. Wir haben sie in der Nacht gehört. Wir sollten vielleicht ein paar von den Jungkriegern das machen lassen. Danach sind wir weiter nach Hestr. Die blonde Riina hat Zwillinge geboren“. Björn nickte zur Antwort.
„Das Mädchen?“, fragte er schlicht und blickte in ihre Richtung. Brander schnaubte.
„Ramea ist richtig vernarrt in sie. Die beiden kochen zusammen und Nyssa hilft sehr viel bei den Tieren. Ein fleißiges Mädchen.“
„Warum dann das lange Gesicht, alter Freund?“
„Das ist ein Anliegen, dass ich gerne mit dir besprechen möchte und zwar unter vier Augen.“

Nach langen Begrüßungsritualen und Erkundigungen des Wohlbefindens seiner Leute, konnte Björn sich am Abend mit Brander alleine in einen Alkoven zurück ziehen.
„Es ist so, Björn“. Als alte Freunde hatten sie sich auf einen nicht mehr so formelle Anrede geeinigt, wenn sie alleine zusammen waren. „ Das Mädchen ist hübsch und in einem Alter, in dem die meisten Erwachsenen darüber nachdenken, ihre Töchter zu verheiraten. Ich weiß, dass wir es hier anders handhaben und die Jüngeren selbst entscheiden lassen wollen, doch sie hat keine Familie und darum ermuntern die Alten ihre Söhne dazu, ihr den Hof zu machen.“
„Nun, das ist so üblich. Das Mädchen braucht eine Familie, die sich um sie kümmert.“, sagte der Herr von Virfill und nahm einen Schluck aus seinem Methorn.
„Sie hat die Jungs verprügelt.“
Björn spuckte den Met prustend wieder aus.
„Was?“
„Einar, der Sohn vom Lederer, wollte sie küssen. Tja, seine Nase lässt sich wohl wieder richten, aber im Moment hat er es schwer mit dem Atmen und Haakon, der Knecht beim Schmied, muss wohl die nächste Zeit weite Hosen tragen, sonst könnte es untenrum unangenehm werden.“, erwiderte Brander nicht ohne ein kleines Schmunzeln.
„Hast du gerade gelacht? Brander, ich glaube, ich habe dich noch nie lächeln sehen. Nicht einmal, als du Ramea zur Frau genommen hast.“
„Na ja, ihre Mutter hatte mir auch ordentlich gedroht, dass ich sie nehme. Mittlerweile weiß ich auch, warum.“ Er schnaubte. „ Das Mädchen wird kein Hausmütterchen oder Bäuerin, Björn. Wir müssen uns überlegen, was wir mit ihr machen können.“
„Lass mich darüber nachdenken, alter Freund.“ Mit diesem Satz war Brander entlassen und ging zurück zum Fest. Björn hingegen blieb nachdenklich im Alkoven zurück und dachte an die Worte der alten Sylka. Das Mädchen war für Großes bestimmt. Entweder das Reich oder sie würde zerstört werden.
Björn entschied sich. Er wollte aus Nyssa einen Menschen machen, der sich für den richtigen Weg entscheiden konnte, ohne dass es sie zerstören würde. Er wollte sie stark machen. Stark genug.




Am nächsten Tag brachte Björn seine Entscheidung Brander und Ramea.
„Das kannst du nicht tun, sie ist zu jung.“, sagte sie harsch, aber nicht ohne ein „mein Herr“ hintenan zu flüstern.
„Das ist die Entscheidung, die für alle am besten sein wird. Ramea, ich bitte dich, dass du Nyssa bis dahin hilfst unsere Sprache zu verstehen.“ Björn schaute in warme Augen, von denen er wusste, dass es seinen Wunsch nach geschehen würde, denn die beiden waren kinderlos. Er atmete tief ein.
„ Ich werde sie an Kindesstatt annehmen und wenn die Blätter grünen, wird sie mit auf Wanderschaft gehen.“

Der Winter wurde mild. Björn, als Herr von Virfill, blieb mit seinen engsten Vertrauten und deren Familien in Virfillborg, während die Familienclans mit kleineren Herden der Pferde und Nutztieren fortzogen, um in wärmeren Gefilden zu überwintern. Des Abends wurden Geschichten erzählt und des Tages die Tiere versorgt. Wanderer wurden beherbergt und Hausierer empfangen. Des einen oder anderen Mal kamen Boten aus Meinz, die Kunde vom Krieg Nordheims brachten und auch viele Geschichten von den Taten großer Männer. Nyssa hörte stets zu, und Björn warf ihr häufig Blicke zu. Sie schien durch hören zu lernen und es nahte schnell der Tag, an dem sie ihre ersten Worte sprach. Es kam ein Sonnenstrahl herab und ehrfürchtig schaute sie in den Himmel.
„Der Frühling ruft“, sagte sie verträumt und machte sich wieder an die Arbeit. Ab da an redete sie täglich mehr und lernte, zu Rameas Verdruss, nicht wenige Schimpfworte an der großen Tafel im Langhaus. Da viele der Zurückgebliebenen Krieger waren, die selten eine Familie hatten, waren die Gesprächsthemen am Tische zuweilen recht derb. Das Kind schien jedoch keine Unterschiede in der Sprache zu machen und lernte alles gleichsam. Die Tiere, die sie zu verpflegen hatte – Reittiere und ein paar wenige Rinder – gediehen. Sie hatte ein ruhiges Händchen mit jungen Pferden und die Kühe ließen sich anstandslos melken. Ferner konnte man sie aufgrund ihrer Größe und ihrer Gewichts auf junge Tiere setzen, um diese an einen Reiter zu gewöhnen. Sie verstand schnell, was das Tier wollte und wie es reagieren würde. Nyssa konnte einstweilen sogar vorhersagen, wann ein Tier auskeilen oder wann es zubeißen wollte. Der Winter schien schnell zu vergehen und die Krieger fanden Gefallen daran, das junge Mädchen zu belehren.




Der Frühling nahte. Nyssa sprach bereits einige Sätze, blieb doch oft still und in Gedanken. Die Tiere wuchsen ihr ans Herz und gerade die Pferde schienen ihr stets zugegen zu sein. Es war die Frühlingswende, als Björn ihr das zwei Jahre zuvor wintergeborene Fohlen schenkte. Ein grau-schwarzes Stutfohlen, welches recht klein für sein Alter war. Auch die Farbe war absonderlich, da fast alle Pferde in Virfill braun, rot oder schwarz waren. Doch diese Stute wurde im Winter fast schneeweiß und erhielt im Sommer sein grau-schwarzes Fell zurück. Das Fohlen folgte Nyssa auf jeden ihrer Schritte und schon bald nannten alle es nur noch Bikkja, die Hündin. Es war als würden die beiden auf einer Ebene kommunizieren, die niemand verstand, und so konnte Nyssa das Fohlen einreiten, ohne auch nur ein einziges Mal abgeworfen zu werden.

Die Pferde wurden beladen und gesattelt. Ganz Virfill schien auf den Beinen zu sein. Der Schmied hämmerte fast schon im Akkord Hufeisen, und der Lederer reparierte Schäden am Zaum. Nyssa rannte zu Brander und Ramea. Der alte Krieger und seine Frau hatten sich dagegen entschieden, auf Wanderschaft zu gehen, da sie das Alter mittlerweile plagte. Sie hielten Verpflegung und weiteres Gepäck im Arm. Nyssa schien euphorisch und strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihr trottete Bikkja.
Ramea nahm das Mädchen in den Arm. „Pass auf dich auf, Kind.“
„Sei stark und schnell. Möge der Wind dich begleiten und donnernde Hufe deine Feinde überrennen“, sprach Brander. Er zitierte einen Text seiner Ahnen, den sein Vater ihm selbst bei seiner ersten Wanderschaft sagte. Dann überreichte er ihr einen in Stoff umhüllten Gegenstand. Sie nahm ihn entgegen und entwickelte ihn. Es war eine Axt. Ein kurzes Beil mit dunkelbraunen Holzschaft, verziert mit Symbolen der Nordheimer und mit silberner Klinge, die im Sonnenlicht glitzerte. Erfürchtig hielt Nyssa sie in den Händen.
„Ein gutes Beil ist oftmals hilfreicher, als ein Schwert.“, sagte Brander augenzwinkernd und schaute dann zu Björn, der sich gerade in den Sattel schwang. „Es geht los.“
Nyssa warf sich Brander in die Arme.
„Danke.“, flüsterte sie, umarmte Ramea und rannte auf Bikkja zu. Im Laufen sprang sie auf deren blanken Rücken und ließ sie zu der Gruppe galoppieren. Die kleine Stute trug weder Zaum noch Sattel. Lediglich zwei Taschen lagen über dem Rücken, in denen Nyssas Habe untergebracht war.

Björn ließ Donnerhuf vor die wartende Gruppe laufen. Es waren über hundert Männer, ein paar wenige Frauen auf 5 Wagen verteilt und das Mädchen, das von Njørd geschickt worden war. Die Herde der Tiere, die sie betreuten belief sich auf 250 Pferde und gute 200 Rindviecher. Dazu kamen 20 Hunde, allesamt Wolfshunde und deren Hybriden und etliche Maulesel mit Gepäck.
„Vom Norden wird ein Sturm aufkommen, wir reiten also an der Küste entlang Richtung Süden und von dort weiter bis zur großen Ebene. Wir werden dort zwei Monde verbringen. Ihr kennt euren Platz in der Herde.“ Scharf war sein Blick, als er gerade die jungen Männer musterte. Oft waren sie es, die die Reihen durchbrachen, oder ihren Platz vergaßen. Die erfahrenen Reiter blieben bei der Herde, während junge Krieger und solche, die es noch werden sollten, der Herde folgten. Wagen und Lasttiere folgten dahinter. Nyssa gehörte zur zweiten Gruppe. Sie würde die Älteren beobachten und aufpassen, dass keine Tiere nach hinten verloren gingen. Während der zwei Monde auf der großen Ebene wurden die jungen Krieger an die Waffen gewöhnt. Die große Ebene lag westlich von Meinz im Schatten der Berge. Im Laufe der Wanderschaft wurden diese umrundet und im späten Sommer trennten sich die Krieger von der Herde und den Treibern, um nach Meinz zur Heerschau zu reiten. Die Treiber und Pfleger der Herde machten sich dann auf den Weg nach Virfillborg, um den Herbst dort zu verbringen. Diejenigen, die Björn nicht zur Heerschau auswählte, mussten sich der Herde anschließen.
Schon bald wurde klar, dass Nyssa ein gewisses Talent besaß, was den Umgang mit den Waffen anbetraf. Was besonders auffiel, war ihre Geschwindigkeit und ihr Geschick mit der kleinen Axt, die sie von Brander geschenkt bekommen hatte. Es dauerte nicht lange, dass sie fast ausschließlich mit Björn an den Waffen trainiert, da sie von den anderen Kriegern kaum noch etwas lernen konnte. Klar war sie den Männern im Körperbau und in der Stärke unterlegen, was sie aber mit Geschick und Schnelle wieder wett machte. Björn bemerkte doch schnell bei ihr eine gewisse Rohheit, man könnte es fast wild nennen. Sie liebte den Kampf, wurde ihm klar und konnte ihr in ihrer Rastlosigkeit einiges beibringen und ihre Fehler aufdecken, indem er ihr Besonnenheit lehrte. Um ihr Verantwortung beizubringen, schickte Björn das Mädchen oft nach Meinz auf den Jarlshof, wo sie dem Jarl Bericht erstattete und Nachrichten für Björn mitbrachte. Die Männer in der Methalle beäugten sie kritisch, doch hielten sie sich an den Befehl, sie nicht anzurühren. Am Jarlshof zu Meinz lernte sie schnell, welche Männer ihr wohlgesonnen waren und welchen sie besser aus dem Weg gehen sollte. Nicht selten gab es kleine Reiberreihen zwischen Nyssa und einer der jüngeren Recken in den Reihen der Huscarls und nicht selten suchte ein solcher danach das Zelt des Heilers auf.

Monde später, kaum vier Wanderungen nachdem Nyssa nach Virfillborg kam und dort ein Zuhause fand, begab es sich, dass eines Morgens im Frühling ein Reiter in die Umzäunung galoppierte. Es handelte sich um Jören auf Arvo. Jören war mittlerweile zum Mann gereift und hatte die Ehre bekommen am Jarlstisch zu sitzen, wo er bald zum Huscarl ernannt werden sollte. Doch bis zu diesen Tag sollte er am Jarlshof dienen.
Er sprang ab und ließ Arvo einfach die Zügel frei.
„Ruft nach Björn Pferdefuß. Sagt, ich bringe Kunde von Jarlshof. Er soll sich sputen.“, rief er und nahm von einer Bäuerin eine Kelle mit Wasser entgegen, welche er gierig trank.
Björn kam zeitlich daraufhin aus Virfillborg heraus gelaufen.
„Sei gegrüßt Jören. Du bringst Kunde?“ Die beiden Männer begrüßten sich mit einer Umarmung und nach einem kurzen Blick in das Gesicht des Jüngeren, runzelte Björn besorgt die Stirn.
Jarl Peter schickt mich und noch einige mehr in die Lande, um Krieger im Jarlsgebiet zu den Waffen zu rufen.“ Er erhob die Stimme, auf das jeder sie vernahm, „Ein jeder Mann, der zur Heerschau war und sich nun Krieger nennen darf. Ein jeder, der fähig ist, soll sich rüsten und gen Jarlshof reisen. Es wird Krieg erwartet.“
In den letzten Jahren wurde der alte Jarl von Odin an dessen Tafel in Valhalla gerufen und Peter Thorson, der damalige Anführer der Huscarls, wurde zum neuen Jarl gewählt. Doch bisweilen hatte Jarl Peter keinen würdigen Nachfolger als neuen Anführer der Huscarls und erstes Schwert im Reich gefunden. Er hätte gerne Björn Pferdefuß an dessen Stelle gesehen, doch Björn hatte es jedes Mal ausgeschlagen und andere Krieger, welche ihm würdig erschienen, empfohlen.

Stunden später herrschte reges Treiben im Zeltdorf. Ein jeder Mann, der sich Krieger nannte, sammelte seine Ausrüstung ein und ein jeder, der nicht mitzog, half, wo Hilfe gebraucht wurde. Pferde wurden beschlagen und gesattelt, Rüstzeug erneuert, Schwerter geschliffen.
Björn hatte sich mit Jören in das Langhaus zurück gezogen und unterhielt sich eingängig mit ihm.




to be continued...