Saga von Anna Gudrunsdottír
Es war ein frischer und doch sonniger Morgen, als die kleine Anna auf einem Stein am Goldbach saß. Er plätscherte vor sich hin wie ein geschwätziges altes Weib und Anna lächelte.
"Ich verstehe, was du sagst," grinste sie zu dem Bach. Dann nahm sie ihre kleine Kinderharfe zur Hand und zupfte darauf eine kleine Melodie.
Ihre Mutter Gudrun hatte sie ihr geschenkt. Eines Tages hatte sie ihr das Instrument mitgebracht und gesagt: "Spiel darauf, so viel du kannst, mein Kind. Wenn du älter bist, bekommst du eine richtige Harfe. Aber dann werden die Götter dir zuhören!"
Anna übte fleißig und es fiel ihr auch gar nicht schwer. Die Natur sprach zu ihr und erzählte ihr Geschichten. Und immer, wenn sie für die Leute aus ihrem Dorf spielte, taten diese dasselbe. Anna hörte immer aufmerksam zu und dann spielte sie ein neues Lied. Das gefiel den Leuten, und manchmal wurden sie ganz still. So als wollten sie nicht stören, wenn die Götter lauschten.
Anna war guter Dinge, als sie den Bach verließ. Sie legte den Lederriemen der an der Harfe gefestigt war um die Schultern und hüpfte singend nach Hause.
Das Dorf Svartasund war nicht sehr groß. Es gab kein Langhaus hier. Der Häuptling Karel Mattisson wohnte im Nachbardorf, in Bjørnholm. Das passte zu ihm, er sah selbst aus wie ein großer Bär. Anna war schon einmal dort gewesen, und war dem brummbärigen großen Mann vorgestellt worden. Er hatte seiner Mutter zugehört und seine haarigen braunen Augenbrauen gehoben. Daraufhin hatte er eine kleine Verbeugung vor Anna gemacht und gesagt: "Dann haben wir ja noch große Dinge von dir zu erwarten, kleine Wissende."
Anna hatte gekichert und kein Wort verstanden.
Als sie heute ihr Dorf erreichte, war ihr nicht nach Kichern zumute. Irgendetwas war hier seltsam. Ein Verharren zwischen zwei Tönen. Anders als am Bach. Es war dunkler als es hätte sein dürfen im Sonnenschein. Die Leute huschten in ihre Häuser. Es war kaum jemand zu sehen.
Anna hielt Ausschau nach ihrer Mutter. Sie stand als einzige an ihrer Tür vor dem Haus. Sie hatte einen Gast! Er hatte einen großen in einem Sack verschnürten Gegenstand dabei.
Als Gudrun ihre Tochter kommen sah, weiteten sich ihre Augen. Der Fremde wandte sich um und grinste. Er hatte einen verschlagenen Ausdruck in den Augen. Sein Haar war lang und rot, und er erinnerte Anna an einen großen Fuchs. Er war ihr auf Anhieb nicht sympathisch und ihr war unwohl bei dem Gedanken, was ihre Mutter wohl mit ihm zu schaffen hatte.
"Anna, meine Kleine, geh doch ins Haus," ihre Mutter lächelte, aber es lag keine Freude darin. Sie war nervös.
Der Fremde lachte leise und bohrend: "Ah, die kleine Anna! Das ist sie also." Gudrun ergriff Anna am Arm und zog sie halb hinter sich.
"Du darfst sie nicht anrühren!"
Der Mann hob sein Kinn: "Sagt wer?!"
"Das weißt du genau!"
Der Mann schürzte die Lippen in gespielter Enttäuschung: "Ja, ja, wer würde sich schon gerne mit deiner Mutter anlegen... Zu schade," er grinste wieder, aber was ist mit dir? Die Frauen in eurer Familie dulden zwar nur Helden in ihrem Bett, aber du hast schon lange keinen mehr gehabt, he?" Er spielte mit ihrem Zopf.
Sie entzog sich ihm wütend: "Überbringe deine Botschaft und verschwinde!"
"Schon gut," er zuckte gleichgültig mit den Schultern und beugte sich dann zu Anna herab:
"Ich hab hier was für dich, kleine Anna. Die Nornen haben sich für dich was ganz besonderes ausgedacht," er lachte wieder und es klang nicht nett. Doch als er dann den Sack aufschnürte, bekam Anna ganz große Augen. Darin war eine wunderschöne Harfe versteckt! Sofort schlug heftig ihr Herz und alles in ihr sehnte sich danach dieses Instrument zu berühren, ihm Töne zu entlocken. Es war wundervoll verziert und mit Schnitzereien übersät. Eine Meisterarbeit, das sah selbst sie mit ihren neun Jahren.
Doch das grinsende Gesicht des Mann es gefiel ihr immer noch nicht.
"Ja, nehme es ruhig mal zu dir, kleine Anna."
Anna sah fragend zu ihrer Mutter. Gudrun hielt sie fest. "Was soll das bedeuten?"
Der Mann antwortete: "Deine Mutter geht uns ganz schön auf die Nerven in Valhalla, musst du wissen."
Gudrun gab einen abfälligen Laut von sich: "Wohl nur dir!"
Er ignorierte das: "Ihre Nachkommen sind für alle Zeiten gut geschützt, dafür hat sie gesorgt. Dich erwartet auch ein gesundes ehrenvolles Leben. Aber für deine Tochter hat sie etwas ganz besonderes vorgesehen. Sie hat die Nornen dazu bewegt, dass deiner Tochter besondere Kräfte verliehen worden sind bei ihrer Geburt." Er machte eine bedeutungsvolle Pause. Als Gudrun jedoch nicht in überraschtes Staunen verfiel fuhr er genüsslich fort: "Aber das hat einen teuren Preis!"
Sie zog ihre Mundwinkel nach unten: "Dafür hast du gesorgt, nicht wahr!?"
Er tat überrascht und deutete auf sich: "Ich? Wie kommst du nur darauf?"
Sie verrollte die Augen: "Na schön, was ist der Preis?"
"Nicht so hastig," er schob das Instrument zu Anna, "sie wird es schon noch herausfinden."
Damit lachte er wieder, wandte sich um und tanzte einmal im Kreis wie ein Derwisch. Er schien das unheimlich lustig zu finden und tanzte in die Hände klatschend davon.
Gudrun war angewidert und spuckte auf den Boden. Ihr Griff an Annas Schulter war fest.
Anna war verwirrt: "Mama, du tust mir weh."
Gudrun kam zu sich und strich ihrer Tochter über das Haar: "Ich glaube, es ist an der Zeit, das ich dir etwas erzähle, kleine Fee."
Es gefiel Anna gar nicht, wie ernst ihre Mutter war. Sie zog den Sack wieder über das Instrument, so als wolle sie es nicht berühren und hob es vorsichtig ins Haus. Anna folgte ihr und schloss vorsichtshalber die Tür. Vielleicht konnte sie damit den seltsamen Mann aus ihrem Kopf vertreiben.
"Mama, wer war das?"
Gudrun seufzte und setzte sich auf einen Stuhl. Sie zog Anna zu sich und sah ihr tief in die Augen.
"Sein Name ist Loki. Wünsche dir, dass du ihm nie wieder begegnest. Er bringt nur Unglück."
"Aber er hat so eine wundervolle Harfe mitgebracht - ist die für mich?"
Gudrun nickte: "Ja... sie ist für dich."
Doch als Anna freudestrahlend zu dem Sack laufen wollte, hielt Gudrun sie wieder fest: "Hör mir erst zu!"
Anna nickte und hörte zu. Gudrun erzählte: "Meine Mutter war eine mächtige Frau. Sie hielt Zwiesprache mit den Göttern. Ihr Name war Wismut Glythasdottír. Sie entschied darüber, welcher Krieger es wert war an der Tafel der Götter in Valhalla zu speisen nach seinem Tod. Als sie starb, umringten sie die Walküren und nahmen sie in ihre Mitte auf."
Anna lauschte gebannt und Gudrun fuhr fort.
"In Valhalla sorgte sie als erstes dafür, dass ihre Tochter beschützt werden würde, ich war ja nun ganz alleine ohne sie in der Welt. Denn ihr Vater, also mein Vater, war ein großer Krieger und Wismut hat ihn in ihr Bett genommen und danach nach Valhalla geschickt."
Gudrun lehnte sich zurück: "Du weißt ja, was das heißt."
"Ja, er ist tot."
"Naja, er speist jetzt mit den Göttern an der heiligen Tafel."
"So wie mein Papa?"
"Nein, dein Papa hat noch viele Aufgaben zu bestehen. Aber eines Tages wird auch er nach Valhalla gehen."
Anna nickte. Sie hatte ihren Vater nie kennen gelernt. Und ihren Großvater ebenfalls nicht. In ihrer Familie gab es nur Frauen.
Gudrun sagte: "Also schloss sie einen Handel mit den Nornen ab. Die Nornen bestimmen über unser Schicksal, wie du weißt. Sie flechten die Lebensfäden der Menschen zu Zöpfen und wenn ihre Zeit gekommen ist, schneiden sie sie ab."
Anna erschauerte: "Das ist unheimlich."
Gudrun nickte: "Aber so ist es."
"Und warum kostet das einen Preis?"
Gudrun sah nachdenklich zu der Harfe: "Weil du etwas ganz besonderes bist, mein Kind."
"Darf ich jetzt darauf spielen?"
Gudrun schüttelte sich leicht, weil es ihr eiskalt den Rücken herunter lief: "Ja, spiel nur."
Anna freute sich und packte das Instrument aus. Sofort zupfte sie an den seidenen glänzenden Saiten. Es klang atemberaubend schön. Sie ächzte auf vor Glück und spielte. Sie sah nicht, das Entsetzen in den Augen ihrer Mutter, sie hörte nur den wundervollen Klang und spielte, bis ihr die Finger wund wurden und ihre Augen müde. Sie schlief ein wie ein Tier, um die Harfe gewickelt.
Sie ging kaum noch zu dem Bach. Sie lauschte nicht mehr der Natur, denn nun sprach nur noch ihre Harfe zu ihr. So laut und deutlich, dass sie davon eingenommen war.
Sie sprach von zukünftigen Ereignissen, und von der Vergangenheit. Sie erzählte über Helden und Krieger. Wenn sie abends am Feuer saß und für die Leute spielte, dann waren sie voller Ehrfurcht. Jetzt wussten sie, dass die Götter tatsächlich zuhörten.
Eines Abends spielte Anna das Lied von einem großen Krieger. Er führte einen Stamm an, der weit in den Bergen lebte. Er trug eine Axt bei sich, die so groß war wie ein Mann, und er hatte sie selbst geschmiedet. Anna sah, während sie spielte, wie er auf einem Thron saß und wie man ihm einen goldenen Helm aufsetzte. Es war eine Krone. Viele Männer knieten vor ihm nieder, und schworen ihm die Treue. Auf seinem Wappen stand ein brüllender Bär.
Zuerst dachte sie an Karel, doch er konnte es nicht sein. Er lebte hier und nicht in den Bergen. Es musste ein anderer sein und sie wusste, diese Vision war eine ihrer wichtigsten.
Ihr Blick traf den ihrer Mutter und im selben Moment riss eine ihrer Saiten. Sie spürte den Riss wie ein körperliches Leid. Sie krümmte sich und stöhnte auf vor Schmerzen.
Sofort kam ihre Mutter zu ihr und richtete sie besorgt auf.
"Anna? Was ist mit dir?!"
Anna hatte verstanden: "Mutter, es wird Krieg geben... Ich muss aufbrechen und den Druiden davon berichten, was ich gesehen habe. Ein großer Anführer wird sich aus den Bergen erheben..."
Sofort entstand ein großer Tumult. Die Leute fingen an miteinander zu diskutieren. Sie waren aufgebracht und rätselten über Annas Worte. Krieg. Es hatte schon lange keinen großen Krieg mehr gegeben. Und wenn die Nordheimer einem großen Anführer folgen würden, dann würde es wahrhaftig ein großer Krieg sein.
Anna aber starrte auf ihre Harfe, dorthin wo die Saite herunterhing. Mit Entsetzen begriff sie, dass sie gerade ein Lebensjahr verloren hatte. Die Saiten waren keine gewöhnlichen Saiten. Sie wusste jetzt, dass sie auf ihren eigenen Lebensfäden spielte...
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