Der Fremde und der Einäugige auf der Lichtung: Unterschied zwischen den Versionen

Aus www.erkenfara.com
Isenstein (Diskussion | Beiträge)
Die Seite wurde neu angelegt: „Es war in den Tagen, da die Winde von Osten Eis und von Westen Sturm trugen, als ein Fremder den langen Weg nach Nordheim ging. Er hatte von diesem Reich gehört, in dem Runen im Stein glühten und Krieger ihre Schwerter nach Liedern benannten. Doch nichts wusste er gewiss – weder von seinen Menschen, noch von den Göttern, die über ihm wachten. Tagelang durchquerte er Wälder, in denen das…“
 
(kein Unterschied)

Aktuelle Version vom 9. September 2025, 02:05 Uhr

Es war in den Tagen, da die Winde von Osten Eis und von Westen Sturm trugen, als ein Fremder den langen Weg nach Nordheim ging. Er hatte von diesem Reich gehört, in dem Runen im Stein glühten und Krieger ihre Schwerter nach Liedern benannten. Doch nichts wusste er gewiss – weder von seinen Menschen, noch von den Göttern, die über ihm wachten.

Tagelang durchquerte er Wälder, in denen das Sonnenlicht kaum den Boden berührte. Nächte lang hörte er das Heulen der Wölfe und das Knacken der Bäume im Frost. Doch eines Morgens lichtete sich das Dickicht, und er trat auf eine weite Lichtung hinaus.

Dort stand ein Mann.

Breitschultrig, den Mantel vom Wind zerzaust, das Haar grau wie altes Eisen. Ein Auge brannte in seinem Gesicht wie eine Glut unter Asche, das andere war durch eine Narbe verschlossen. In seiner Hand hielt er einen Speer, schlicht im Blick, doch von solcher Würde, dass der Fremde unwillkürlich innehielt.

Der Mann sprach, und seine Stimme war wie das Grollen des Donners zwischen Bergen:

„Velkomin til Nordheim, främlingr.“
(Willkommen in Nordheim, Fremder.)

Der Fremde verneigte sich leicht. „Herr, ich weiß wenig über dieses Land. Sag mir: Was macht Nordheim aus?“

Der Einäugige stützte sich auf seinen Speer, und die Luft auf der Lichtung wurde still, als lauschten auch die Raben über den Baumwipfeln seinen Worten.

Nordheim er føddr or storm ok blóð.
Ymir gaf oss jörð or sinni hold,
hav or sinni blóð,
fjäll or sinni bein.“
(Nordheim ist geboren aus Sturm und Blut.
Ymir gab uns die Erde aus seinem Fleisch,
das Meer aus seinem Blut,
die Berge aus seinen Knochen.)

Der Fremde wagte zu fragen: „Und wie leben die Menschen in solcher Härte?“

Der Einäugige nickte langsam.

Stål er sjel,“ sagte er.
(Stahl ist Seele.)

„Eiðr er sterkare enn keðja.
Brýtr du eið, fellr du bæði lív ok æra.“
(Ein Schwur ist stärker als Ketten.
Brichst du den Schwur, verlierst du Leben und Ehre zugleich.)

Er hob den Speer, und für einen Herzschlag schien er heller zu glühen.

„Men vi syngja ok minnast.
Runor tala, skaldar kvæða.
Så er Nordheim:
sverd ok songr, stormr ok hopa.“
(Doch wir singen und erinnern.
Runen sprechen, Skalden dichten.
So ist Nordheim:
Schwert und Gesang, Sturm und Hoffnung.)

Der Fremde stand still und lauschte, während der Wind plötzlich verstummte, als hielte die Welt den Atem an.

„Wie soll ich mich den Nordheimern zeigen?“, fragte er leise.

Der Einäugige trat näher, sein Atem dampfte in der kalten Luft.

„Seg: Skjalf heill!
Ok folk mitt skal kenna þik.“
(Sprich: „Skjalf heill!“
Und mein Volk wird dich erkennen.)

Da wiederholte der Fremde die Worte: Skjalf heill! – noch unsicher, doch es war, als klangen unsichtbare Runen im Wind.

Der Einäugige nickte zufrieden.

„Du skalt standast, ef hjarta þitt er sterkt.
Nordheim tekr þann inn,
sem eldr stormens ei ræddr er.“
(Du wirst bestehen, wenn dein Herz stark ist.
Nordheim nimmt den auf,
der das Feuer des Sturms nicht fürchtet.)

Nachdem der Einäugige den Fremden die Worte Skjalf heill gelehrt hatte, schwieg er einen Moment. Sein Blick wurde dunkel, und sein Speer schien schwerer in seiner Hand zu liegen.

„Men høyra nú, främlingr,“ sprach er,
(Doch höre nun, Fremder,)

„ein mann stígr fram or skuggarne.
Ursus McFiann heitir hann.
Hann er herr ok herskare,
men hans hjarta er bundet i frykt.“
(Ein Mann tritt aus den Schatten.
Ursus McFiann ist sein Name.
Er ist Herr und Kriegsherr,
doch sein Herz ist von Furcht gefesselt.)

Der Fremde runzelte die Stirn. „Furcht? Vor was fürchtet sich ein Herrscher?“
Da funkelte das Auge des Einäugigen, und seine Stimme wurde wie das Knarren alter Äste im Sturm:

„Hann þolir eigi seiðr!
Magia er bannet í hans hollar.
Sá, som ber visdom eller teikn,
skal jagast, skal brennast.“
(Er duldet keine Zauber!
Magie ist in seinen Hallen verboten.
Wer Weisheit oder Zeichen trägt,
wird gejagt, wird verbrannt.)

Er senkte den Speer, die Spitze glitt tief in den Boden der Lichtung, und der Klang hallte wie ein ferner Donner.

„Vakta þik, främlingr.
McFiann ser fiende í hverjum seiðmann
Hann byggir riki sitt á frykt,
ok frykt brennr sterkare enn eldr.“
(Hüte dich, Fremder.
McFiann sieht in jedem Zauberer einen Feind.
Er baut sein Reich auf Furcht,
und Furcht brennt stärker als Feuer.)

Dann hob er wieder den Blick, und für einen Augenblick lag in seiner Stimme fast Mitleid:

„Men minnast:
Eld kann slokna,
ok frykt kann falla.
Þat, som stend, er æra.“
(Doch merke dir:
Feuer kann verlöschen,
und Furcht kann fallen.
Was bleibt, ist die Ehre.)

Ein plötzlicher Windstoß fuhr über die Lichtung. Der Mantel des Mannes flatterte wie der Flügelschlag eines Raben. Als der Fremde blinzelte, war er allein. Kein Krieger, kein Speer – nur ein schwarzer Rabe, der aufstieg und mit heiserem Ruf im Himmel verschwand.

Da wusste der Fremde, dass er nicht irgendeinem Krieger begegnet war. Er hatte mit dem Einen gesprochen, dem Wanderer unter den Göttern, dem Allvater selbst – mit Odin, dem Einäugigen, dem Herrn des Speeres Gungnir. Und mit diesem Wissen trat er tiefer in das Land Nordheim, wissend, dass seine Schritte von nun an Teil einer größeren Geschichte sein würden.


Zurück nach: Sagen und Geschichten / Nordheim / Hauptseite